Gerlinde Michel

Gerlinde Michel

Kurzgeschichten

Cat Blues

Veröffentlich in „SURPRISE“ Strasssenmagazin Nr. 304, 12. Juli 2013

Ich stehe hinter dem Tresen und poliere die Kaffeemaschine. Mit einem Lappen reibe ich den Chromstahl blank, bis sich mein Gesicht darin spiegelt. Über die aufgestapelten Mokkatassen hinweg kann ich dabei Marlene und den dunkelhaarigen Mann beobachten. Ich liebe solche schläfrige Spätnachmittage in der Blauen Katze, wenn die Mütter samt Kindern und Einkaufstaschen gegangen sind und mit ihnen das Gelächter und die geflüsterten Neuigkeiten, wenn ich Krümel und Eisteepfützen von den Holztischen gewischt habe und es so still in der Gaststube ist, dass man hört, wie die Fliegen gegen die Fensterscheiben prallen. Ein paar Gäste lesen Zeitung oder starren in halb leere Biergläser. Der pensionierte Briefträger, der fast jeden Nachmittag hier sitzt, oder einer der Arbeiter aus der Schreinerei gehen manchmal mit quietschenden Sohlen zur Jukebox und holen mit einer Münze Musik in den Raum, einen Blues oder einen alten Schlager, und klopfen mit Fingern oder einem Fuss den Takt.

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Titelseite Surprise 304

Antigorio

1. Preis Kurzgeschichtenwettbewerb «OpenNet», Literaturtage Solothurn 2006                                             

Der Mann überholt den Kastenwagen und schaltet in den vierten Gang. Schnurgerade läuft  das Asphaltband über den Talgrund, schwarz im Nieselregen. Fetter Nebel klebt an den Hängen und franst bis in die Wiesen aus. Von Bäumen und Telefondrähten tropft die Nässe, sie färbt die hölzernen Pfosten der Weidzäune grau.
Weiter vorne stehen zwei Leute auf der linken Strassenseite, bewegungslos wie Pappfiguren. Beim Näherfahren erkennt der Mann ein Paar. Sie tragen Windjacken und grosse Rucksäcke und sind jung, mit feuchten Haarkringeln über der Stirne und verfrorenen Augen. Jetzt schnellt die Hand der jungen Frau, Daumen gegen oben, in seine Richtung. Der Mann zögert einen Sekundenbruchteil, misst mit rascher Augenbewegung die Situation aus. Hinter ihm fährt ein Kastenwagen, vor ihm ist die Strasse leer und weitet sich links zu einer Einmündung.
– Ich nehme die beiden mit, sagt er zu der Frau neben ihm und tritt auf die Bremse, noch bevor er ihre Antwort hört. Brüsk lenkt er den Wagen nach links in die Nebenstrasse.
– Ach ja, bei dem schrecklichen Wetter, sagt die Frau.
Der Wagen rutscht auf losem Schotter, bevor er zum Stehen kommt.

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Herbstrolle

Geschrieben für den Benefizanlass «Umbruch» in der Mahogany Hall Bern, Oktober 2008

Zwischen Umweltcouverts und überflüssigen Zeitschriften fällt mir der Brief sogleich auf: metallisch schimmerndes Rauchblau, quadratisches Format, knisterndes Pergamentimitat. Keine Allerweltsetikette klebt auf dem Umschlag, nein, meine Adresse wurde von Hand geschrieben, mit zyklamenrotem Stift und ausufernden Schwüngen. Beim Hochsteigen zu meiner Wohnung versuche ich den Absender zu erraten. Weder die Schrift kommt mir bekannt vor noch das zitronig-herbe Parfüm, das die Sendung überhaucht. Ich rätsle. Seit meinem Geburtstag ist es Monate her, meinen Namenstag halte ich geheim, und bei Wettbewerben gewinne ich sowieso nie etwas.
Der Brieföffner liegt auf dem Schreibtisch; ich zerre die Klinge durch den Falz. Puristisch silbergrau glänzt die Karte im Umschlag; innen zyklamenroter, metallen funkelnder Druck.
Von Eleonore und Norbert von Büren. Das gibts ja nicht. Noch vor einer knappen Woche hat Norbert mich beinahe aus dem Büro geschmissen. Und jetzt dies: Sie laden zu einer kleinen Party unter Freunden ein, um etwas Besonderes zu feiern (Geheimnis, Geheimnis – gelüftet wird es Punkt Mitternacht!), kein Dresscode, einfach schick und bequem, DJ ab 22 Uhr, R.S.V.P. bis …, wir freuen uns auf dich/euch, und dann kommt der Satz, den ich dreimal lese: «Einzige Bedingung: du/ihr präsentiert uns deine/eure persönliche Herbstrolle».

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Ich, Verlierer

Geschrieben für den Benefiz-Anlass «Umbruch» in der Mahogany Hall Bern, Oktober 2009

Schon als kleiner Junge verlor ich manchmal Dinge – Schulhefte, meine Wollmütze, den Radiergummi, oder wenn es schlimm kam, meine Jacke oder die Velopelerine. Meine Mutter schimpfte deswegen mit mir und sagte, wenn du nicht aufpasst, verlierst du noch deinen Kopf, und sie meinte das überhaupt nicht lustig. Einmal kam es ganz schlimm mit dem Verlieren. Damals verlor ich meinen kleinen Bruder auf dem Spielplatz. Nicht für immer, aber immerhin drei Stunden lang. Nachher kriegte ich auf den Hintern und musste ohne Abendessen ins Bett.

Ich hätte daraus eine Lehre fürs Leben ziehen sollen, aber damit wurde nichts. So sehr ich mich bemühte, ich blieb dem Verlieren treu, oder es mir. Immer sperrigere Dinge gingen verloren, Vaters Stechgabel zwischen Pflanzblätz und Haus, Mutters frisch besohlte Sonntagsschuhe, und auf dem Weg von der Lehrbude zum Treuhänder ein Bundesordner mit Unterlagen für die Steuererklärung. Als mich der Meister deswegen noch vor der Abschlussprüfung aus der Lehre warf, beschloss ich, Verlierer zu werden. Manche wurden Koch und kochten, andere erlernten Schreiner und schreinerten, wieder andere wurden Zuhälter und hielten zu – ich würde Verlierer werden und verlieren. Verlieren war das Einzige, das ich wirklich gut konnte. Ich fand einen Teilzeitjob als Nachtwächter und machte mich tagsüber hinter das berufliche Verlieren.

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Mövenstein

Er sah verfroren aus, obwohl die Sonne ins Zimmer schien. So, mit hochgezogenen Schultern und dem zwischen die Achselhöcker geduckten Kopf glich er einem grossen Vogel, dachte Eva, selbstgenügsam und entrückt, die müden Flügel an den Körper gelegt. Eva hatte nach der Rückkehr Jeans angezogen und die feuchte Wanderkleidung in die Sonne gehängt. Jetzt stand sie unter der Türe zwischen Gang und Wohnraum, unentschlossen.
Antanas schaute durch das Fenster auf die Bucht, die Hände in den Taschen der Wanderhosen vergraben. Zwischen den Felsen, die sich wie glatte Tierrücken aus dem Wasser hoben, tanzten kleine Wellen und spiegelten die Abendsonne. Eva sah Antanas› gewölbte Schultern unter dem Pullover. Könnte sein Rücken sprechen, dann würde er sagen, komm mir jetzt nicht zu nahe. Sie kannte das, die Sprache seines Rückens, seines gesenkten Kopfes. Am Anfang ihrer Liebe und Ehe hatten sie diese stummen Botschaften beunruhigt. Mit den Jahren gewöhnte sie sich daran, gab es auf, immer nach einer Erklärung zu suchen. Oder schlimmer, nach ihrer Schuld, wenn Antanas wortlos Distanz forderte.
Heute kannte sie den Grund. Es war ein seltsamer Tag gewesen, seine Ränder ohne festen Halt, der Boden unter den Füssen brüchig.

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Jenseits eines kleinen Ozeans

1. Preis Berner Kurzgeschichtenwettbewerb 2004

Ihre Stimme hat einen anderen Klang, als sie fragt, kannst du heute bei mir vorbeischauen? Ich möchte dir etwas zeigen.
Joachim zögert. Was will sie von ihm. Warum sagt sie das so, so ruhig und harmlos.
Mit dem Hörer am Ohr schaut er durchs Fenster auf die andere Strassenseite. Dort hebt die  junge Frau aus dem Haus gegenüber ihren Säugling auf den Rücksitz ihres Autos und schnallt sein Sitzchen fest. Das blonde kleine Mädchen neben ihr weint, es zerrt an seiner gemusterten Jacke. Die Frau bückt sich und spricht mit ihm. Sie ist hübsch, denkt Joachim, etwas grösser und nicht so dünn wie Blanca, und wohl auch etwas älter.
Er langt sich ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen aus dem Haufen von Papieren, Büchern und Zeitschriften auf seinem Pult, fingert die vorletzte Zigarette heraus. Mit einem Streichholz zündet er sie an und klemmt dabei den Hörer unters Kinn.
– Was willst du mir denn zeigen, fragt er nach dem ersten Zug und bläst den Rauch gegen die fleckige Scheibe.

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Die Überfahrt

1. Preis Berner Kurzgeschichtenwettbewerb 2003

Die Lachsreste und Salatstreifen auf ihrem Teller erinnerten Julie an das Tapetenmuster in ihrem Mädchenzimmer. Julie und ihre Schwester hatten auf bunten Wänden bestanden, als die elterliche Wohnung nach Jahren der Nachkriegsfarben endlich frisch hergerichtet wurde, und während ihren Kinderkrankheiten schaute Julie tagelang die Tapete an. Grüne Palmen und rosarote Liegestühle tanzten vor ihren Augen auf und ab und lehnten sich erschöpft an untergehende Sonnen, bevor Julie in den nächsten Schlummer fiel. Mit der Gabel schob sie ein Salatblatt über das Lachshäufchen und rollte eine Kaper daneben.
Finished, Madam? fragte Rawi. Der malayische Kellner hatte begonnen, die Vorspeisenteller abzuräumen. Julie nickte. Das Stimmengewirr im Restaurant schlug jetzt wie eine Welle gegen sie; Gelächter vom Tisch der Engländer oder Australier prallte an Julies Rücken.

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