Gerlinde Michel

Gerlinde Michel

Kolumnen

Kolumne Januar 2016
Mehr Grimsel an der Jungfrau!

Ein Paukenwirbel vibrierte kurz vor Jahresende über den Berner Alpen – Widerhall des Durchbruchs nach jahrelangem Kämpfen und Ausharren, Widerstehen und Argumentieren, nach unbeirrter Lösungssuche und Einsatz der verfügbaren Rechtsmittel. Etliche haben das Signal kaum wahrgenommen, weil die Angelegenheit sie nicht interessiert. Einige haben sich wohl geärgert und sinnen jetzt auf Auswege, viele hat er gefreut – wenn nicht zu einem Freudentänzchen hingerissen. An der Grimsel hat für einmal die Natur gesiegt.

2004 setzte der Bundesrat fest, die national geschützte Moorlandschaft an der Grimsel beginne entlang einer Höhenlinie von 27 Metern über dem heutigen Seeufer. Dies liess alle, die dort schon vorbeigewandert sind, ungläubig die Köpfe schütteln. Der imaginäre Strich durch die Landschaft, mutmassten die Wanderer, wurde wohl kaum nach einem Bundesratsreisli in die Sunnig Aar festgelegt. Denn Arven, Sumpfgräser, Tümpelchen, Moorflecken, Kleinbiotope und vierbeinige Moorbewohner besiedeln eigensinnigerweise seit jeher den ganzen Hang bis hinunter ans Ufer. Die behördliche Begrenzung hoch über dem Seespiegel hätte jedoch den Kraftwerksbetreibern erlaubt, die Staumauer um ebenso viele Meter zu erhöhen und dahinter doppelt so viel Wasser als bisher zu speichern. Das unter der Bundesratslinie gelegene Hochmoor mit Arven und allem wäre folglich ertrunken. Nun hat das Bernische Verwaltungsgericht den Moorschutz stärker gewichtet als die Möglichkeit, an der Grimsel höhere Staumauern zu bauen. Der bundesrätliche Perimeterentscheid sei unzulässig, rechtswidrig und rein politisch begründet gewesen, befand es in seinem Urteilsspruch. PPPaukenschlag!

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Kolumne Oktober 2015
Trauben, Trolle und Küsse

Im Spiezer Rebberg waren Ende September die Trauben reif, zuerst die weissen, etwas später die roten. Damit sie rechtzeitig und in guter Qualität von den Stöcken in den Keller gelangen, stützt sich die Rebbaugenossenschaft zu einem guten Teil auf freiwillige Erntehelfer. Heuer war ich zum ersten Mal dabei, immerhin nicht als ganz blutige Anfängerin, hatte ich doch als Teenager mehrmals bei der Traubenernte am Genfersee mitgeholfen. In Erinnerung geblieben sind mir Rückenschmerzen, klamme Finger, endlose Arbeitstage auch bei strömendem Regen, und ziemlich viele Küsse. In Spiez war das anders, vor allem in positivem Sinn.

Aber fangen wir doch gleich mit dem einzigen Spiezer Minuspunkt an, dem Küssen. Vielmehr dem unterbliebenen Küssen. Kein Thema in Spiez, man ist ja schliesslich hier im Berner Oberland und nicht bei den für ihren charmanten Umgang mit Frauen gerühmten Romands. Die Jungs im Waadtländer Rebberg bekamen nämlich für jede hängengelassene Traube einen Kuss von der säumigen Pflückerin. Oder sie durften ihr einen geben. Je nach dem, welcher garçon unsere gefüllten Kisten wegschleppte, liessen wir filles seltener oder öfters mal eine Traube hängen. So wurden die vendanges ganz nebenbei zu einer Initiationswoche ins erotische Spiel, und das war nicht reizlos.

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Kolumne August 2015
Rialtojoch

Vor einer Woche brachte der online-„Bund“ einen Beitrag über den Massen-Tourismus in Venedig und anderswo. Horden von Tagestouristen verstopfen jeden Tag den Ponte Rialto und den Markusplatz, so dass kaum noch ein Durchkommen sei, aber ausgeben tun die Leute dabei kaum ein paar Euros. Der Ärger der Venezianer über die Touristenwalze ist mittlerweile so gross, dass sich Behörden und Bürgerkomitees Massnahmen überlegen, um die ungeliebten Herden gar nicht erst in die Stadt einzulassen. Ausgenommen sind natürlich Reisende, die in Venedigs Hotels logieren und ein paar Tage dort verbringen. Ähnlich rumort es auf den Kanarischen Inseln, wo Millionen die Strände füllen und verschmutzen, aber als All-inclusive-Touristen lokal fast nichts konsumieren.

Probleme des Auslands? Wir eher Städter/innen, oder pauschal gesagt, wir, die mehr Aare abwärts wohnen, schauen derzeit gebannt Richtung Oberland, oder genauer, ins Grindelwaldner Tal. Dort lauert mit dem Eiger-Express ebenfalls ein Massentourismusprojekt. Ob das Vorhaben durchkommt oder nicht, entscheiden die Talbewohner/innen, möglicherweise auch die Juristen, aber nicht wir von weiter unten. Man solle sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen, war ein Lieblingsspruch unserer Primarlehrerin. (Ob wir uns das je zu Herzen genommen haben, ist eine andere Sache.) Sollen wir Aareabwärtsler/innen also das Maul halten?

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Kolumne Mai 2015
Arbeitsplätze retten

Die direkte Demokratie ist eine wunderbare Sache. Dank ihr haben wir immer wieder Gelegenheit, die Schweiz vor dem sicheren Untergang, die Schweizer Wirtschaft und KMUs und Familienbetriebe vor dem finalen Kollaps zu bewahren und Hundertausende von Arbeitsplätzen zu retten. (Natürlich nur, sofern man den Stimmzettel richtig ausfüllt.) Auch darum sind wir das glücklichste Volk auf Erden.

Demnächst dürfen wir wieder eine solche familien- und wirtschaftsfeindliche Attacke abwehren, nämlich bei der Abstimmung über die nationale Erbschaftssteuer-Initiative. Die Initianten wollen die Vermögen, die sich in wenigen Familien konzentrieren, ein bisschen besser verteilen. Das Geld soll an die AHV gehen, die ja sowieso demnächst im Keller ist, und an die Kantone, die auch schon bessere Zeiten gesehen haben, ausser dem Kanton Zug, natürlich. Ja, wenn man sich das so überlegt, dünkt es einen schon nicht ganz richtig, dass bei uns in der Schweiz zwei Prozent der Leute soviel Vermögen besitzen wie die restlichen 98 Prozent. Und wenn diese zwei Prozent das Zeitliche segnet, gehen ihre Millionen an die Nachkommen über, ohne dass die einen Rappen Steuern zahlen müssen. Jedenfalls in den meisten Kantonen. Wir sind doch sonst noch so für Ausgleich und Gerechtigkeit, in der Schweiz. Da müssten wir doch eigentlich für diese Initiative sein, oder? Vor allem, wenn wir zu den 98 Prozent gehören, wie logischerweise oder nach Adam Riese die meisten von uns.

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Kolumne März 2015
Überschriften verdauen

Ein Bekannter sagte mir, momentan lese er in der Zeitung nur noch die Überschriften, mehr bringe er nicht fertig. Selbst wenn solch selektive Lektüre den Eindruck verstärke, dass die Welt fast nur noch aus Katastrophen besteht. Und regelmässig erfasse ihn dann eine grosse Traurigkeit.

Die Überschriften der letzten Monate – spontan aus dem Gedächtnis notiert – handeln selten von etwas anderem als Schrecknissen: Waffenstillstand in der Ukraine wiederholt gebrochen. Tausende toter und verletzter Zivilisten im ostukrainischen Rebellengebiet. Russland liefert schwere Waffen in die Ostukraine. Oppositioneller mitten in Moskau erschossen. 200 tote Bootsflüchtlinge vor Lampedusa. Boko Haram überfällt Dörfer in Nordnigeria und metzelt die Bewohner nieder. Keine Spur der entführten Schülerinnen. Der IS breitet sich in Libyen aus. Über eine Million Flüchtlinge als Opfer des syrischen Bürgerkriegs, und kein Ende in Sicht. 2014 mehr als 3000 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer umgekommen. Der IS verbrennt jordanischen Piloten bei lebendigem Leib und stellt das Video ins Netz. Der IS köpft 21 ägyptische Kopten und stellt das Video ins Netz. Immer mehr junge Leute aus Westeuropa schliessen sich den IS-Terroristen an. Wieder Selbstmordattentäter auf einem Markt in Bagdad, über 60 tote Zivilisten. Schlepper zwingen Flüchtlinge mit Waffengewalt auf marode Boote. Der Taliban erneuert Angriffe in Afghanistan. 29 Bootsflüchtlinge aus Afrika auf dem Mittelmeer erfroren. Terrorangriff auf Charlie Hebdo, 12 Karikaturisten erschossen. Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Paris und Kopenhagen. Terrorangriff auf Kulturlokal in Kopenhagen. Unberührbare Frau in Indien vergewaltigt und erhängt. Nordkoreas Diktator kauft Luxusjet, derweil die Untertanen verhungern. Eiserne Zensur in China. Korrupte Führungsgilde im Kosovo, Tausende verlassen das Land auf Arbeitssuche. Kein Entkommen für junge Männer aus Eritreas Militärterror. Nigeria: Siebenjährige sprengt sich und fünf Menschen in den Tod.

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Kolumne Dezember 2014
Littering

Ein neues neudeutsches Wort hat uns erreicht: Littering. Das so Bezeichnete beschäftigt Strassenreiniger seit jeher, Behörden und die gesetzgebende Politik zunehmend. Das englische Substantiv bzw. Verb „litter“ bedeutet Unterschiedliches, einerseits überraschend Herziges wie „a litter of cats or pigs “, ein Wurf Kätzchen oder Säuli, dann „Sänfte“ bzw. „Trage“ für gehunfähige, vornehme oder einfach bequeme Menschen, ausserdem – und jetzt nähern wir uns langsam dem neudeutschen Bedeutungsfeld – „Streu“ und „Mist“, wie sie in Kuh- oder Schweineställen anfallen, und schliesslich „herumliegender Abfall“, bzw. als Verb „Abfall liegenlassen“, wobei die Endung –ing die Tätigkeit des Abfall-Liegenlassens bezeichnet. Diese zugegeben etwas lehrerinnenhafte Einführung führt vielleicht bei Sprachpuristen zur Einsicht, weshalb einmal mehr ein englisches statt eines deutschen Worts herhalten musste. Finden Sie mal einen einheimischen Ausdruck, welcher „Das Liegenlassen von Abfall im öffentlichen Raum “ oder „Das Schmeissen von Abfall auf die Strasse“ so genial kurz und prägnant einfasst wie „Littering“! Soviel zu den Vorzügen der englischen Sprache.

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Kolumne August 2014
Ich wünsche mir eine offene Schweiz!

Die Entwicklung der Schweiz macht mir Sorge, die Trends der letzten Zeit beunruhigen mich. Die Schweiz: ein Land mitten in Europa, das sich von Europa abschottet, das traumatisierte Kriegsflüchtlinge abweist, doch dank wenig Regulierung und tiefen Steuern skandalträchtige Rohstoffmultis anlockt und davon profitiert. Die Schweiz: ein Land, das hemmungslos Rosinen pickt, wo und wie lange es kann. Die Schweiz: ein Land, in dem der unreflektierte Volkswille mehr zählen soll als menschenrechtskonformes Völkerrecht. Mir graut ob diesem Szenario. Doch kann es noch weiter Realität werden, falls jüngst angekündigte Volksinitiativen zustande kommen und eine Mehrheit finden sollten.

So richtig ins Bewusstsein getreten ist der Trend nach der angenommenen Masseneinwanderungsinitiative. Bis man weiss, wie sie umsetzen, und bis die Folgen der Umsetzung sicht- und fühlbar werden, dauert es noch eine Weile. Sicher ist, dass sich ein Heer von steuerbesoldeten Juristen und Behördenvertreterinnen damit herumschlägt, um die maximale Schadensbegrenzung zu ermitteln. Wahrlich ein tolles Geschenk des Schweizer Volks an sich selber. Zumal die von der SVP propagierten Arbeitskontingente gemäss glaubhaften Analysen noch mehr Einwanderer ins Land holen würden.

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Kolumne Mai 2014
Wie man die nächsten Wahlen gewinnt

Die Grossratswahlen sind vorbei und vergessen, die Verlierer lecken ihre Wunden nur noch im Stillen. Doch die nächsten Wahlen – nationale, kantonale, auf Gemeindeebene – warten schon in der Pipeline, es gilt für die Parteien so oder so, sich darauf vorzubereiten. Weil diejenigen, die verloren haben, auch mal zu den Gewinnern gehören wollen, täten sie gut daran, ihr Parteiprogramm zu überdenken und mit ein paar zugkräftigen Slogans/Programmpunkten zu bereichern. Die folgende Liste kann als Anregung dienen, vieles davon hat sich im In- und Ausland bereits bewährt. Die Vorschläge sind als Auswahlsendung und überregional gedacht; sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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Kolumne Februar 2014
Sparen – eine alte Schweizer Tugend

„Was denkst du, wohin wir im Sommer in die Ferien fahren?“ – Natürlich komme ich nicht drauf, da kann ich noch so lange raten. – „Jersey, fünf Tage Hotel inklusive Flug für 890 Franken. Vorher gehe ich bei der Steuerverwaltung vorbei und frage den Herrn K., wie viel Bares wir mitnehmen und dort einlagern dürfen.“ – „Warum willst du denn das machen?“ –  „Weil wir so Steuern sparen können. Schliesslich hat unser Wirtschaftsminister der Nation vorgemacht, wie das geht. Und Steuern sparen ist etwas Gutes. Weil das nämlich Arbeitsplätze sichert, hat er gesagt.“ – „Aber du bist doch nur ein KMU und keine Grossfirma, geht denn das?“ – „Natürlich geht das! Steht etwa nicht in der Schweizer Verfassung, dass wir vor dem Gesetz alle gleich sind? Wenn die Grossen in Jersey Steuern optimieren können, dürfen wir Kleinen das doch auch. Erst recht, weil ich beschlossen habe, dass ich nicht auch noch Bundesrat werden will. Und dass das Offshore-Bunkern legal ist, hat der Wirtschaftsminister in einem Interview gesagt, das stand so im Berner Oberländer.“ – „Stimmt. Hat er nicht auch gesagt, wenn einem Kanton legal Steuereinnahmen entgehen, dann sind dem Kanton keine Steuereinnahmen entgangen? Hmm, logisch eigentlich, wenn man sich das genau überlegt. Gut, einverstanden, dann machen wir das auch so.“

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Kolumne November 2013
Vertrauen verspielt?

Normalerweise bringe ich den Behörden einiges Vertrauen entgegen. Dass sie erkennen, wo Handeln nottut, dass sie dranbleiben, wenn es um Wichtiges geht wie die Rechtssicherheit, das Wohlergehen der Menschen und die gesunde Entwicklung unseres Landes. Wahrscheinlich ist das zuweilen naiv. Aber wir können uns ja nicht ständig von Misstrauen leiten lassen, sonst werden wir krank.

Mein Vertrauen wird trotzdem gelegentlich erschüttert, zum Beispiel jetzt, wo die Politik die von der Mehrheit angenommene Zweitwohnungsinitiative bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Oder kürzlich nach der Lektüre eines Artikels*) über die politische Bewältigung der Finanz- und Bankenkrise. Ich bin in Finanzdingen unbedarft, kann weder Bilanzen lesen noch habe ich die leiseste Chance, die Mechanismen des globalen Finanzsystems zu verstehen. Den Beitrag des Finanzjournalisten habe ich aber verstanden – und er treibt mich auf die Palme.

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Kolumne August 2013
Disneyland?

Vor Jahren zeigte ich einer amerikanischen Freundin stolz unser Oberland. Danach äusserte sie sich beeindruckt zum „Disneyland of the Alps“. Sie meinte das keineswegs ironisch.

Nun, kürzlich fuhren wir mit der Bahn ins Puschlav zum Wandern. Pontresina wirkte noch wie eine mitten in den Lärchenwald verpflanzte Stadt, eine Art Fremdkörper in der alpinen Umgebung, doch ab dann überwog ungestörte Berglandschaft. Von Pontresina bis Campocologno zuunterst im Puschlav fallen genau zwei Bergbahnen auf: die Gondeln auf die Diavolezza und auf die Lagalp. Beim Berninapass soll es ein paar Skilifte geben, sonst erschliessen einzig die Berninabahn und einige Strassen das Tal – keine Sesselbahn hinauf zu den verwunschenen Seelein im Val da Camp, keine Drahtseilbahn auf den Aussichtspiz Caral oder auf einen anderen markanten Gipfel. An den Laghi da Saoseo und Val Viola hält man erfolglos nach Sinalco- und Biersonnenschirmen Ausschau, obschon die Bergseen genau so blau und grün schimmern wie der Blau- und der Oeschinensee. Boote kann man keine mieten, und auch keine Quads knattern von A nach B. Auf den Hängen rund um die Ortskerne, wo anderswo Ferienchalets und Aparthotels wuchern, weiden Kühe oder wird Gras gemäht. Man reibt sich die Augen und möchte wissen, warum und wie der Tourismus in dieser Region funktioniert. Dass er lebt, ist augenfällig. „Si, siamo contenti,“ bestätigt der Hotelier beim Abschied.

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Kolumne Juni 2013
Coming-Out im Aaretal

Vor wenigen Wochen war in der Tagespresse eine Nachricht zu lesen, die wohl manchem Gemeindefinanzchef den Schweiss puren Neides in den Nacken trieb. In der Berner Vorortsgemeinde Rubigen hielt nämlich ein Steuerhinterzieher – oder sagt man politisch korrekt Steueroptimierer? – das Kneifen und Zwicken seines Gewissens nicht mehr aus. Der Mann – vielleicht war’s auch eine Frau, aber mir ist einfach ein Mann aus der Feder gerutscht, also lassen wir’s – der Mann ging also ins Gemeindehaus und zeigte sich selbst an. Als einen, der seine Einnahmen und sein Vermögen jahrelang nicht korrekt versteuert hat. Gebüsst wurde er nicht, weil er von der neuen Steueramnestie im Kanton Bern profitiert; er musste lediglich Nachsteuern und Verzugszinsen für maximal zehn Jahre zahlen. Immerhin summierte sich dies alles auf 920’000 Franken, mit denen niemand gerechnet hatte. Das budgetierte Defizit von Rubigen verwandelte sich schwupps in ein Plus von einer halben Million, der Finanzchef konnte aufschnaufen und die rote Zahl befriedigt ausradieren. Bestimmt rieb sich auch der Gemeindepräsident die Hände, vielleicht verspürte er sogar eine Sekunde lang den Impuls, zur Feier des unerwarteten Geldsegens im Bären eine Runde Freibier zu spenden, hat es dann aber doch sein lassen. Vielleicht befürchtete er, dass einigen das Bier etwas bitter geschmeckt hätte.

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März 2013
Swarovski konnte zusammenpacken

Schneeglöggli und Krokusse blühen, Moos und Heu auf dem Türvorleger verraten die nistenden Spatzen auf dem Dachbalken, und morgens holt mich Amselgesang statt des Weckers aus dem Schlaf. Trotz der Freude über den nahenden Frühling reizt mich ein Rückblick auf den grossen Winter, den die einen ins Pfefferland wünschten und der anderen als Beweis dient, die Klimaerwärmung sei eben doch nur ein Märchen. Ersteres ist durchaus verständlich, vor allem bei älteren und gehbehinderten Menschen, das Zweite, dieses Märchen, ist leider keins – aber darum geht es hier nicht. Hier soll es um sinnliche Eindrücke und Erlebnisse gehen, welche uns der Ausnahmewinter bescherte, um ungewohnte Anpassungen und Erkenntnisse, die er uns aufzwang. Sie sind in solcher Intensität selten und verdienen, denke ich, eine abschliessende Würdigung.

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Dezember 2012
Wurst und Weltuntergang

Der spanische Schriftsteller und Kolumnist Francisco Umbral war einer der bekanntesten und fleissigsten Kolumnenschreiber. Jahrelang schrieb er tägliche Kolumnen für „El Pais“ und „El Mundo“. Eine Kolumne, sagte er einmal, sei wie eine Wurst. Man könne hineinstopfen, was einem so einfalle, alles kunterbunt durcheinander gemischt, aber sie müsse an beiden Enden fest verschnürt sein.

Kolumnen, das wusste auch Umbral, schreiben sich nicht von selber, sie wollen, dass man zuerst über sie nachdenkt. Was stopfe ich also mitten im Dezember in eine Kolumnenwurst? Wollen die Leserinnen und Leser beim Lesen Vorweihnachtsstimmung fühlen, wären sie froh um meine Geschenktipps für Leute, die schon alles haben, oder möchten sie eine Adventsgeschichte lesen? Da ich mich zunehmend als Weihnachtsmuffel erlebe und erleichtert bin, wenn die Tage nach den aufgeblähten Erwartungen, der Flut an Geschenkprospekten im Briefkasten und den Feststimmungsappellen wieder ein normales Gesicht tragen, eigne ich mich dazu schlecht. Also gibt’s von mir keine Weihnachtsgeschichtenkolumne, sorry.

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September 2012
Lesegruppen – eine Hommage

„Beim Lesen habe ich mich dauernd gefragt, ob alle Ereignisse noch einen tieferen symbolischen Sinn haben.“ – „Für mich ist bei Bakker das meiste vordergründig und zugleich symbolisch, die Tiere vor allem, die Gänse und Dachse, überhaupt die Natur, der Sternenhimmel, oder dass die Geschichte im Winter passiert.“ – „Aber dass die Frau noch diesen Berg besteigt, so kurz vor ihrem Tod, ist einfach unglaubwürdig.“ – „Finde ich nicht, für mich stimmt das. Ich kenne Leute, die waren schon schwer krank und haben noch Berge bestiegen oder Ähnliches gemacht.“ – „Auf den ersten Blick fand ich die Symbolik faszinierend, aber mit der Zeit wurde mir alles zu viel, zu überladen.“ – „Und überhaupt: Wie interpretiert ihr den Titel?“

Wir diskutieren den neusten Roman des Niederländers Gerbrand Bakker, „Der Umweg“, angeregt, kontrovers, manchmal auch hitzig. Wir, das sind sechs Frauen aus Spiez. Unser Läsikränzli gibt es seit 1989, in wechselnden Besetzungen und mit einer Kerngruppe, die von Anfang an dabei war. Gelesen und diskutiert haben wir seither 124 Romane: 65 Werke von Frauen, 59 von Männern. Spitzenreiterinnen sind Christa Wolf und die Kanadierin Margaret Atwood (je fünf Werke), männlicher Rekordhalter ist Lukas Hartmann mit vier Büchern.

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Juli 2012
Sonnenblumen und Schweizerkracher

Vor gut einem Monat lag ein Brieflein Sonnenblumenkerne der Sorte ‚Uniflorus’ in meinem Briefkasten. Auf der aufgeklebten Etikette wünschte mir eine in unserer Gemeinde aktive Partei „einen blumigen Sommer“. Besagte Gruppierung hat sich bislang keineswegs mit Aktivitäten zugunsten der Natur sprich Umwelt hervorgetan, eher im Gegenteil. Und nun sollte ich mit ihrer Ermutigung auf einmal Sonnenblumen ziehen und meinen Garten oder Balkon beblumen?

Bisher waren es vor allem die Grünen, die beim Unterschriftensammeln oder an Wahlveranstaltungen mit Sonnenblumenküchlein, -kernen oder blühenden Sonnenblumen für sich warben; bekanntlich schmückt eine Sonnenblume auch deren Logo. Das unerwartete Geschenk stürzte mich deshalb in Konfusion – nicht nur, weil es für das Säen der Kerne zu spät im Jahr war. War das Bhaltis ein Anzeichen dafür, dass die Grünen die Parteienlandschaft rechts der Mitte unterwandert und mit ihren Ideen durchkrautet haben? Oder war das Gegenteil wahr?

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Mai 2012
Klassik aus Kinshasa

Aus Afrika erreichen uns selten Nachrichten, und noch seltener positive. Doch es gibt Ausnahmen. Die Geschichte aus dem Kongo, auf die mich eine Freundin aufmerksam machte, ist so positiv und gleichzeitig so erstaunlich, dass sie weitererzählt werden muss. Es ist die Geschichte des einzigen Sinfonieorchesters von Zentralafrika, dem „Orchestre Symphonique Kimbanguiste“ aus Kinshasa.

Die Zehnmillionenstadt Kinshasa gilt als die chaotischste Hauptstadt der Welt. Der grösste Teil der Bevölkerung ist bitterarm, und fast nichts funktioniert. Und ausgerechnet hier kommen bis zu 200 Musikerinnen und Musiker zu einem so hochkomplexen Organismus zusammen, wie es ein Sinfonieorchester ist, und üben klassische Musikstücke ein – jeden Tag.

Nur ein Verrückter, denkt man, kommt auf die Idee, ein Sinfonieorchester zu gründen und zu dirigieren, ohne dass er Musiknoten lesen geschweige denn ein Instrument spielen kann.
Armand Diangienda war verrückt genug, genau dies zu tun. Armand flog als Pilot bei der nationalen Airline und wurde eines Tages arbeitslos. Weil ihm sein Grossvater mit auf den Weg gegeben hatte, er solle einmal ein Orchester gründen, beschloss er, jetzt sei die Zeit dafür gekommen. Von irgendwo her trieb er ein paar Musikinstrumente auf, brachte sich selbst das Notenlesen und das Cellospiel bei, rekrutierte im Kirchenchor die ersten Musiker und begann mit ihnen zu proben. Wer gelernt hatte, seinem Instrument erste Tonreihen zu entlocken, brachte seine Kenntnisse anderen bei. In den Anfangsjahren teilten sich einige Dutzend Musikbegeisterte in die wenigen Instrumente. Damit jeder an die Reihe kam, probte Armand einfach in mehreren Schichten. Seit das Orchester bekannter geworden ist, treffen hie und da gespendete Instrumente in Kinshasa ein. Orchestermusiker mit handwerklichem Geschick reparieren die oft schwer lädierten Geigen, Celli und Bässe. Anspruchsvoll ist niemand: Im Notfall haben auch schon Velobremskabel Verwendung als Saiten gefunden.

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März 2012
Ich lese – also bin ich

Descartes formulierte seinen berühmten Satz seinerzeit ein bisschen anders, und die Abwandlung mag als verwegene Behauptung daherkommen. Schliesslich atme ich auch, laufe herum, denke, rede, lache, schreibe, konsumiere, und vieles mehr – alles Dinge, die ich ebenfalls als seins- oder lebensnahe empfinde. Aber das mit dem Sein/Leben und dem Lesen hat trotzdem viel für sich, mehr als nur die überraschende klangliche Nähe.

So richtig bewusst wurde mir dies erstmals, als ich mit neun Jahren nach einem geplatzten Blinddarm wochenlang im Inselspital lag. Aus unerfindlichen Gründen hatte man mich in einem Zwölferzimmer in der Frauenabteilung versorgt, ohne Gleichaltrige zum Spielen, Schwatzen und Kichern daneben. Auch gab’s damals in der Insel weder TV noch Radio am Bett, ebenso wenig wie Spielanimatorinnen, Physiotherapeuten, Spitalclowns und tägliche Besuchszeiten. Für mich ist klar: ohne Bücher hätte ich den Spitalaufenthalt kaum überlebt, ich wäre vor Langeweile und Längizyti eingegangen. So schleppten meine Eltern und mein Bruder an den drei Besuchsnachmittagen (à zwei Stunden) kiloweise Bücher aus der Bibliothek herbei und wieder weg, und ich las und las und las, den halben Bibliotheksbestand muss ich in dieser Zeit gelesen haben, und wurde nebenbei auch wieder gesund. Lesen als Überlebenshilfe – das erlebte ich hautnah. Wie dankbar war ich nachträglich meinem Bruder, der sich mit vier Jahren das Lesen selber beigebracht hatte und danach fand, ich, seine zweijährige Schwester, müsse es ihm blitzartig gleichtun. Die Familienchronik berichtet, dass er sich eines Tages neben mich setzte, abwechselnd in ein Buch zeigte und auf mich eindrosch und dazu schrie: „Du sollst Ypsilon sagen, du sollst Ypsilon sagen!“ Meine Antwort ist nicht überliefert, ich nehme an, es war ein artikulationsarmes Gebrüll. Zum Glück für mein späteres Überleben hat der – gut gemeinte – brüderliche Abrieb meinen Lesehunger gefördert und nicht zerstört.

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Dezember 2011
Lächelnd und parklos auf den Schlossberg

Der Herbst war nicht nur warm und trocken sondern auch bunt, in den Wäldern und auf den politischen Schauplätzen des Berner Oberlands, bunter und bewegter als auch schon. Dass beispielsweise gleich zwei Berner Oberländer gute Chancen hatten, den Kanton im Ständerat zu repräsentieren, hat es ja noch nicht oft gegeben. Der Wahlkampf liess niemanden kalt, und dem einen Oberländer Kandidaten ist es gelungen und dem anderen nicht, wie das eben so läuft in der Politik. Jetzt sind viele Leute deshalb unglücklich, und noch viel mehr Leute ziemlich glücklich. Und obwohl alles längst vorbei ist, vermissen wir noch immer ein bisschen die Gesichter der beiden Herren, die uns während langen Monaten aus unserem Leibblatt, von Bahnhofswänden, Plakatsäulen, Heuschobern, Weiden und Feldern anlächelten. Man hat sich direkt daran gewöhnt, und irgendwie fehlt jetzt etwas. Ich finde es schade, dass keine Berner Oberländer/innen für den Bundesrat kandidieren; ihr Bild in den Zeitungen würde uns von der Leere ablenken. Doch heuer kommen die Kandidaten bekanntlich aus anderen Kantonen. Wobei der Kanton Zürich wie immer im vordersten Reiheli dabei ist.

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Juli 2011
Trucks on the Rocks

Sollte mal ein Preis für die erfolgreichsten Saboteure der bundesrätlichen Massnahmen zur C02-Senkung ausgeschrieben werden, dann stehen die Betreiber des Flugplatzes Interlaken ziemlich weit vorne im Reiheli. Denn wer sonst schafft es, 1400 Trucks – neudeutsch für Lastwagen, Brummis oder 40-Tönner –  und 6000 Töffs – schweizerdeutsch für Motorrad – an einem sonnigen Juniwochenende tief ins Berner Oberland zu locken? Dazu 50’000 Zuschauer, die mehrheitlich wohl kaum zu Fuss oder mit dem ÖV nach Matten gereist sind? Logisch, dass ein Treffen von so vielen Schrötigen aber Nötigen plus ihrer zahlreichen Fangemeinde etwa beim Autobahnkreuz Härkingen undenkbar wäre – wie langweilig, einfach auf der Autobahn heranzubrummen oder zu knattern und die Trucker-Flaniermeile samt Wagenburg im öden Mittelland aufzubauen. Da würde unterwegs viel zu wenig Klimagas produziert, und freiwillige Einschränkungen in Sachen Abgase, Feinstaub oder Lärm sind nun mal nicht sexy.

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Mai 2011
Verrücktes 2011

Das Weltgeschehen im ersten Drittel dieses Jahres mutet so unreal an, dass man sich gelegentlich im Kino statt in der Wirklichkeit wähnt. Vieles scheint mehr aus den Fugen geraten als üblich, die Ballung an dramatischen Ereignissen übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Unzähligen Betroffenen wurde in diesem Zeitraum eine Häufung von Katastrophen, humanitären Desastern, demokratischen Rückschritten und auch unerwarteten Aufbrüchen zugemutet. Wir schauten und schauen aus scheinbar sicherer Warte zu, mit einer Mischung aus Entsetzen, Hilflosigkeit und Faszination. Die naive Vorstellung – falls wir sie nicht längst entsorgt haben -, dass alle Menschen eigentlich Anrecht auf Unversehrtheit und Wohlergehen hätten, dass sich Regierende – mit Weitsicht – für das Wohl ihres Volkes und Landes und nicht nur für ihr eigenes Wohl und das ihres Clans einsetzen sollten, kommt zeitweise schwer in Bedrängnis – oder wird neu genährt. Eine subjektive Auswahl:

In Japan verwüsteten Erdbeben und Tsunami nicht nur weite Landstriche, die Naturkatastrophen beschädigten auch Atomkraftwerke.

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März 2011
Artenschwund

Gewisse Dinge und Lebewesen bei uns und anderswo sind im Rückgang begriffen, sie schwinden. Dazu gehören zum Beispiel viele einheimische Singvögel, Tiger und Elefanten im fernen Asien und Afrika, die Anzahl Babys, die noch auf normalem Weg und nicht per Kaiserschnitt auf die Welt kommen, alte schmackhafte Hochstamm-Apfelsorten, und die Schweizer. Letztere seit Jahresbeginn, und das ausgerechnet im Jahr Eins nach dem Jahr der Biodiversität.

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Dezember 2010
Buffett, Gates, und…?

Haben Sie sich auch schon vorzustellen versucht, was die drei Prozent Schweizer, die ebenso viel besitzen wie die restlichen 97 Prozent, mit ihrem Geld alles so anfangen? Ist irgendwie schwierig. Schlecht geht es ihnen kaum dabei, und kürzlich haben wir ihr Wohlbefinden an der Urne noch verfestigt, und nebenbei den Föderalismus und den Mittelstand vor dem Untergang bewahrt, den Totalabsturz der Volkswirtschaft abgewendet und zahllose Arbeitsplätze gerettet, weil die Milliardäre ja jetzt in der Schweiz bleiben können und nicht nach Rumänien und Bulgarien auswandern müssen, wo es sicher auch sehr schön gewesen wäre, die haben ja dort das Schwarze Meer und erst noch tiefere Steuern.

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Oktober 2010
Rentner. Rentner?

Eigentlich sollte es sie gar nicht geben. Sie legen Munitionslager an, schiessen auf Polizisten, verstopfen zu Pendlerzeiten die Züge, sie zielen mit dem Gewehr auf lärmende Jugendliche, überfahren auf dem Zebrastreifen Kinder oder auf dem Garagenplatz die Ehefrau, sie schmuggeln antike Waffen über die Grenze, machen als Geisterfahrer die Nationalstrassen unsicher und versenken ihr Auto im See.

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Juli 2010
Männerspielzeug (2)

Jetzt will mein Mann auch eines. Ein iPhone. Befürchtungen diesbezüglich hegte ich schon seit einiger Zeit; der irrlichternde Blick, mit dem er das neu erstandene iTeil eines Freundes begutachtete, liess nichts Gutes ahnen.

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Mai 2010
Moritz Leuenbergers Äpfel

Sie erinnern sich vielleicht: Irgendwann Anfangs Februar erschien Moritz Leuenberger auf unseren TV-Bildschirmen und rief das Jahr der Biodiversität aus. Zum Drehtermin hatte man ihn auf den Berner Wochenmärit geschleppt, wo er etwas hilflos vor unterschiedlichsten Apfelsorten stand und sich bemühte, den Unterschied zwischen einem Kuchen-, einem Koch-  und einem Kompottapfel zu begreifen.

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März 2010
Männerspielzeug. Männerspielzeug?

Das eckige Ding ist riesig, geradezu monströs. Um nicht zu sagen, obszön. Schwarz, natürlich. Wollte man hineinschauen, müsste man sich fast auf die Zehenspitzen stellen. Sehen würde man trotzdem nichts, wegen den dunkel getönten Scheiben. Blickdicht vor der Aussenwelt geschütztes Innenleben. An der Vorderfront gähnt ein bezahntes Maul: Chromstählerne Kühlergitterzähne, bereit, alles zu verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt. Das Monstrum hat bereits zwei Normalparkplätze gefressen und dazu den halben Gehweg, der eigentlich Einheimischen, Touristinnen, Spaziergängern und Hunden zustünde. Die dürfen sich dünn machen und vorbeidrücken am metallstarrenden Panzergehäuse, das an Angriff erinnert. Oder an den Irak-Krieg. Ist eine Armee ins idyllische Berner Oberländer Dorf eingefallen, mit minengesichertem Abwehrdispositiv? Ein polizeiliches Überfallkommando, gegen dreiste Bankräuber oder schiesswütige Drogenbosse? Unwillkürlich sieht man sich ängstlich um, bereit, in Deckung zu gehen, falls es plötzlich knallt. Komm, komm, beruhigt mein Mann, der sich auskennt, das ist bloss ein Hummer, 330 PS, und säuft wie ein Loch.

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Oktober 2009
Moë, Noé, Zoë

Vor kurzem traf ich eine Bekannte, die soeben Grossmutter geworden war. Ich gratulierte ihr zum Enkelglück und fragte nach dem Namen des Kindes. Etwas verlegen meinte sie, man habe sie natürlich nicht konsultiert, sonst hiesse der Kleine jetzt nicht Moë, mit Doppelpunkt auf dem e. Da wisse ja kein Mensch, ob das ein Bub oder ein Mädchen sein solle, habe ihr Mann gebrummt. Aber freuen tue sie sich trotzdem.
Seither sammle ich Vornamen von Neugeborenen.

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April 2009
Im Sternzeichen Tells

Sie haben es nicht leicht heutzutage, die Männer und Frauen, die im Sternzeichen Tells geboren wurden (dem mit den zwei gekreuzten Armbrüsten, und irgendwo zwischen Schütze und Steinbock angesiedelt). Denn langsam rückt ihnen die Phalanx der Waffengegner auf den Pelz; allenthalben will man ihnen an die Wäsche oder vielmehr an die Waffe, an die Flinte, den Karabiner, die Pump Action, den Vorderlader, an die Jagdbüchse, die Knarre, ans Sturmgewehr. Im Nationalrat neulich mussten die Tellenkinder deshalb so richtig auf den Putz hauen, der ohne kürzlich abgeschlossene Renovation des Bundeshauses noch heftiger herabgeblättert wäre, fast wie trockenes Herbstlaub.

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Januar 2009
Unser Flugzeug

Die langersehnten Ferien haben begonnen, Sie laufen, Ihren Enkel an der Hand, die Gangway zum wartenden Flugzeug hinunter. Ein Mechaniker fällt Ihnen auf, der einen Riss im Flugzeugrumpf behelfsmässig zuschweisst. Drinnen suchen Sie Ihre Reihe. Ihr Sitz – und es ist nicht der einzige – lässt sich nicht geradestellen. Selbst dem Steward gelingt es später nicht, das Gepäckfach über Ihrem Kopf zu schliessen. Wie das Flugzeug zur Abfahrtspiste rollt, scheppert und ächzt es im Gehäuse, und den Schlägen nach scheint mindestens eines der Räder einen Achter oder einen kaputten Pneu zu haben. Der Pilot fährt die Motoren hoch; genau dann schauen Sie zum Fenster hinaus und sehen, wie gelbe Flammen aus dem linken Triebwerk schiessen. Später werden sie zu schwarzem Rauch. Beim Hochsteigen des Fliegers schüttelt sich die Kabine wie ein nasser Hund, ein Plastiksack mit zollfrei eingekauften Schnäpsen fällt aus dem offenen Fach und verfehlt Ihren Enkel um wenige Zentimeter.
Nun haben Sie endgültig genug.

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November 2008
Milch ist ein ganz besondrer Saft

Beim Frühstück – ich kaue mein Morgenmüesli und warte auf eine zündende Idee für das Abendessen – fällt mein Blick auf die weisse Milchplastikflasche, die der Spiezer Milchmann seit einigen Monaten an Stelle der Kartonpackung in den Milchkasten legt. Weil Auge und Hirn sofort mit Lesen beginnen, sobald sie auf Geschriebenes treffen, lese ich, was da blau gedruckt auf weisser Etikette steht: «Milch Lait Latte Standardisierte Vollmilch Lait entier standardisé». Unter «Standardisierte» zieht ein gelbes Wölkchen beziehungsweise ein etwas zufällig wirkender gelber Chribu die Mundwinkel hoch, und vielleicht fällt mir das Wort deshalb auf. Standardisiert, im Zusammenhang mit einem unverfälschten Naturprodukt wie Kuhmilch – wie bitte?

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September 2008
Herr M. in der Röhre

Wussten Sie, dass die Hirnforscher ausser Menschen mit Epilepsie oder Zwangsneurosen auch Liberale und Konservative in die Röhre schieben und dann ihren Gehirnen beim Funktionieren zusehen? Ein Forscherteam um David Amodio an der New York University hat dies getan und dabei Bemerkenswertes herausgefunden. Ihre Erkenntnisse lösen bestimmt keinen politischen Erdrutsch aus. Doch ein Blick darauf – etwa im Vorfeld der demnächst anstehenden Gemeindewahlen – könnte ganz interessant sein.

Herr M., dessen Kolumnen jeweils weiter vorne in dieser Zeitung zu lesen sind – somit sozusagen ein Kolumnenkollege -, befand sich zwar kaum unter den 43 ProbandInnen Amodios, aber niemand verbietet, sich das trotzdem einmal so vorzustellen. Wie alle anderen TeilnehmerInnen hätte also Herr M. vorerst seine politische Einstellung auf einer Skala irgendwo zwischen «sehr konservativ» und «sehr liberal» angekreuzt (sein Kreuz setzte er vermutlich im konservativen Bereich). Später, in der Röhre, schaute er auf einen Bildschirm. Erschien dort ein «M» (hatte nichts mit seinem Namen zu tun!) sollte er eine grüne Taste drücken, blitzte ein «W» auf, eine rote Taste. Kinderleicht, würde man meinen, selbst wenn sich das Ganze 500mal und mit ziemlicher Geschwindigkeit wiederholt. Denkste.

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Juni 2008
Morgen wissen wir es

Eigentlich interessiert mich Fussball nicht. Ich verstehe nichts davon, kenne fast keine Namen der Helden, sammle weder Panini-Bilder noch Autogramme, ich hisse auch keine Schweizer Fahne und trage kein T-Shirt mit weissem Kreuz. Schon im Vorfeld der Euro08 gehen mir der Trubel und das medial zu Brei zerkaute Thema auf die Nerven. Ich rege mich über gewalttätige Fans und Hooligans auf und über die steuerbefreite Uefa, die eine Milliarde scheffelt und die öffentliche Hand mit meinen Steuerfranken für Sicherheit und Stadien bezahlen lässt. Und dann schreibt sie den Fans noch vor, welches Bier sie trinken dürfen und welches nicht! Ich weiss mit Bestimmtheit, dass ich keinen einzigen Match am TV verfolgen werde. Höchstens mal ein Resultat im Sportteil der Zeitung zur Kenntnis nehmen, informiert sein, ob die Schweizer und der an sich sympathische Köbi Kuhn überhaupt noch dabei sind. Mehr nicht. Schliesslich interessiert mich Fussball ja nicht.
Irgendwann im Frühjahr beginnt es zu bröckeln.

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August 2007
Gedichte, Gehirne und Gottschalk

Eine liebe Spiezer Bekannte, nennen wir sie Anna, erzählte mir vor einiger Zeit, mit welchem Projekt sie die Zeit nach ihrer Pensionierung einläutete: Sie lernt jede Woche ein neues Gedicht auswendig. Nicht unbedingt ein Gedicht, das so lang und fett ist wie Schillers «Lied von der Glocke» (zwölf Seiten in meinem Gedichtband!), aber dennoch, stattliche Vier- bis Sechsstropher, robuste Balladen, ganze Sonette finden Eingang in Annas Gedächtnis. Und nicht nur das: die erstmals gelernten Strophen wollen wiederholt sein, damit sie nicht wie farbloses Wasser aus den Gehirnzellen rinnen, sondern die Zeit überdauernd farbig und lebendig haften bleiben. Einen guten Teil ihrer Tage verbringt Anna daher mit ihren Gedichtbänden, lernend, repetierend, rezitierend, sich erinnernd. Sie tue das, sagte sie mir damals mit ihrem spitzbübischen Lächeln, damit ihr Gehirn beim Älterwerden nicht einroste. Und es mache ihr grossen Spass.
Meine erste Reaktion auf Annas Hobby war: toll, fantastisch, bewundernswert – aber was für eine Anstrengung! Später wurde ich eines Besseren belehrt.

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Mai 2007
In Zukunft trifft es Puttgarden

Wir sahen es in der Tagesschau und lasen es in der Zeitung, mit leicht mokantem Lächeln, wie ich gestehe: Stau auf den Strassen gegen Süden, wie immer vor Ostern. Und nun stecken wir selber drin, am Ostermontag auf der Rückfahrt vom Genfersee, wo wir die betagte Tante besucht haben. Die Bremslichter des Vordermannes haben ein paar mal aufgezuckt, dann Stillstand, aus, nichts geht mehr. Vor uns zieht sich die stehende doppelte Wagenkolonne den Hügel hoch, bis sie im nächsten Geländeeinschnitt verschwindet; jenseits des buschbestandenen Mittelstreifens rauscht der Gegenverkehr vorüber.
Stauungeläutert wie wir sind, wissen wir zunächst nicht, was tun. Mein Mann schaut auf die Uhr, durchsucht den mageren CD-Vorrat und ärgert sich, dass er sein I-Book nicht dabei hat. Ich öffne die Autotüre, warme Frühlingsluft streicht um die Beine, irgendwo am grünen Feldrand singen Vögel. Aus den Autos weiter vorne steigen die ersten Leute aus, dehnen die Arme und gähnen. Mein Mann hat sich für Rachmaninov entschieden, ich beisse in einen Apfel. Am Horizont bewegt sich nichts.

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März 2007
Von Vögeln am Spiezberg

Nein, Sie haben nicht richtig gelesen. Hier geht es um Ornithologisches – wenn auch durchaus laienhaft -, nicht um Frivoles. Vielleicht auch um Biodiversität, im positiven Sinne, trotz (oder etwa wegen?) klimatischen Alarmzeichen in Luft, Wasser und Erde. Denn wenn ich meinen Augen und Ohren trauen darf, tummelt sich jedes Jahr eine vielfältigere, buntere Vogelwelt im Garten am Spiezberg. Der Spiezberg – ein heimliches Vogelparadies?

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